Grundbildungszentrum Ortenau

Einfach lernen - besser leben

Lernerin aus Konstanz

Kurzbiographie

Frau Berlinger wurde 1963 in Konstanz geboren. Die Mutter war Hausfrau, der Vater Handwerker. Sie hat einen Sohn (geb. 1985) und lebt zurzeit nach einer Ehe in einer festen Partnerschaft in Konstanz.

Lern- und Berufsgeschichte

Frau Berlinger wurde im Alter von sechs Jahren regulär eingeschult, in einer Klasse mit mehr als vierzig Schülerinnen und Schülern. Schon bald zeigten sich erste Probleme, da sie „nicht mitgekommen ist, weil auch so viele andere Kinder in der Klasse waren“ und sie schon bald große Lernrückstände hatte, laut eigenem Bekunden in allen Bereichen. Ab dem zweiten Schuljahr dann besuchte sie eine Sonderschule, wo sie während ihrer gesamten Pflichtschulzeit beschult wurde und die sie 1979 mit dem Abgangszeugnis verließ. Beim Schulabgang konnte sie in eigener Wahrnehmung „ganz gut schreiben, aber ganz wenig lesen“, was in dieser Kombination eher ungewöhnlich ist. Nach ihren Schilderungen handelte es sich wohl um den (damaligen) Schultyp Schule für Lernbehinderte. Sie berichtet von durchweg positiven Lernerfahrungen ohne besondere oder traumatisierende Ereignisse, ihre Leistungen waren durchschnittlich. „In die Schule bin ich immer gerne gegangen, da waren ja auch alle meine Freunde“.

Im Anschluss besuchte Frau Berlinger die einjährige Berufsfachschule für Hauswirtschaft in Radolfzell, eine vollzeitschulische berufsvorbereitende Maßnahme ohne berechtigenden oder berufsqualifizierenden Abschluss. Sie berichtet von positiven Lernerfahrungen, aber auch: „Es ist niemandem aufgefallen, dass ich nicht richtig lesen konnte.“

In das Berufsleben stieg sie 1980 in einem Altersheim in Konstanz ein, zunächst als Reinigungskraft. Nach kurzer Zeit wurde sie dann auch im Pflegebereich eingesetzt, wo sie das Fachpersonal unterstützte und laut eigenem Bekunden nach und nach auch ersetzen konnte, bei Engpässen, in der Urlaubszeit oder als Krankheitsvertretung. Ihre Leseschwäche war im Heim bekannt, fiel nicht weiter auf bzw. wurde vom mitwissenden Umfeld akzeptiert und aufgefangen. Frau Berlinger war sogar für die Medikation der ihr anvertrauten Menschen verantwortlich – sie ließ sich dabei die individuellen Medikationspläne vorlesen und lernte sie auswendig. Einzelne Medikamente identifizierte sie nicht nur nach aufgedruckten Namen, sondern teilweise anhand der Schachtelfarbe und -größe.

Nach rund fünf Jahren gab Frau Berlinger nach Heirat und Geburt ihres Sohnes diese Tätigkeit auf und kehrte aus dem Mutterschutz nicht wieder an ihren alten Arbeitsplatz zurück. Sie widmete sich in den folgenden 16 Jahren vornehmlich der Haushaltsführung und der Erziehung ihres Sohns. Immer wieder hatte sie auch stundenweise Aushilfs- oder geringfügige Beschäftigungen in verschiedenen Bereichen, darunter auch eine permanente Putzstelle in einem Bürogebäude. An dieser Stelle betont Frau Berlinger, wie wichtig ihr die Erwerbstätigkeit immer war, sie habe „nie Unterstützung oder irgendwelche Hilfen gebraucht“ und immer auch ihren Teil zum Familieneinkommen beigetragen. In dieser Zeit nahm sie ihre Lesedefizite zum ersten Mal als ernstes Problem wahr, als sie zum Beispiel bei einer Aushilfstätigkeit im Supermarkt Regale befüllen sollte und Warenkennzeichnungen nicht oder nur sehr langsam lesen konnte. Auch die schriftliche Kommunikation mit der Schule ihres Sohns bereitete Schwierigkeiten. Aus Scham beschloss sie zusammen mit ihrem Mann, dieses Defizit außerhalb des engsten Familienkreises zu verheimlichen. Der Ehemann übernahm in der Familie alle Lese- und Schreibarbeiten.

Mitte der 1990er Jahre entschloss sie sich auf Initiative des Ehemanns, diskret Alphabetisierungskurse der VHS zu besuchen. Diese finanzierte die Familie selbst. Mit diesen klassischen Abendkursen kam es immer wieder zu zeitlichen Konflikten mit Frau Berlingers Putzstelle, trotzdem lernte sie hier mehrere Jahre.

Um das Jahr 2000 kaufte Frau Berlingers Bruder eine mobile Hähnchenbraterei und bot ihr eine permanente Teilzeitbeschäftigung als Betreiberin dieses Wagens in Alleinregie an. Insgesamt elf Jahre mit einer längeren unfallbedingten Unterbrechung (beide Beine gebrochen) führte sie diese Hähnchenbraterei und berichtet mit großem Stolz, dass während dieser Jahre niemand ihr Problem bemerkt hätte. Die Beschäftigung endete erst, als im Jahr 2013 ein Brand in der Abstellhalle den Wagen total zerstörte und der Bruder danach sein Geschäft einstellte.

Dieses Ereignis markierte gleichwohl einen entscheidenden Wendepunkt für Frau Berlinger: Zum ersten Mal ist sie ohne Arbeit. Wiederum aus Scham, als funktionale Analphabetin entdeckt zu werden, meldet sie sich nicht arbeitslos. Sie findet aus eigener Initiative eine permanente Putzstelle, empfindet diese Tätigkeit aber nach elf Jahren in Selbstverantwortung und mit großer Entscheidungsautonomie als völlig unbefriedigend. Sie beschließt, sich „irgendwie zu verbessern“ und strebt fortan eine „saubere Tätigkeit in Büro oder Verkauf “ an. Als ersten Schritt sieht sie hierbei, richtig Lesen und Schreiben zu lernen.

Seit 2015 ist Frau Berlinger in ESF-geförderten Kursen an der VHS Landkreis Konstanz eingeschrieben. Sie habe sich überwinden müssen, gesteht sie ein, in ihrem Alter nochmals die Schulbank zu drücken – würde aber jetzt gerne noch häufiger als einmal pro Woche zum Unterricht kommen. Ihre hohe Motivation generiert sie aus dem Wunsch, „ganz normal wie andere auch“ am Leben teilhaben zu können und vor allem mit ihrem beruflichen Aufstiegswunsch „weg von der Putzerei!“

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